Niedersachsen

Michael Aust und Michael Schwinning

Raumdeutungen

Eigenproduktion

Gymnasium Lehrte

Sprachlernklasse

Spielleitung: Johanne Bellersen, Taale Frese, Jonas Wunderlich

LATINA, 35 Min.

Du und ich – Wir sind gleich, egal welche Religion ich habe

Die Gruppe aus Lehrte präsentierte sich mutig und charmant so, wie sie sich selbst sehen: junge Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft, die mehr oder weniger neu in Deutschland sind, sich mit den Herausforderungen ihrer Integration konfrontiert sehen und gleichzeitig über ihre Lebenspläne in dem für sie noch fremden Land nachdenken. Die Gruppe nutzt Theaterarbeit unter professioneller Anleitung vorrangig als Mittel zum Spracherwerb und zur Kommunikation innerhalb der Gruppe. Diese Priorität zu benennen ist wichtig, weil es bei dem Projekt nicht darum ging, ein geschlossenes Stück mit dramaturgischer Finesse auf die Bühne zu bringen. Die etwa 30minütige Produktion ist aus anderen Gründen sehenswert. Der Zuschauer erkennt schnell einen eher performativen Zugriff. Das Ensemble sitzt aufgereiht auf Plastikeimern en face zum Publikum und wird Szenen immer wieder aus dieser Grundstellung entwickeln. Am Bühnenrand stehen zwei Standmikrofone, in die Statements gesprochen werden. Ansonsten ist die Szenenfolge nahezu nonverbal und besteht aus Gruppenchoreographien (Aufwachen, Körperreinigung, Schule). In den verlautbarten Statements geben die Spieler*innen Einblicke in ihr Denken und ihre Befindlichkeiten, gerne in ganz profanen, alltäglichen Kontexten („Was ich dir sagen wollte, dein Brot schmeckt seltsam.“).

Kostümiert sind alle in unterschiedlichster exaltierter Form, die Verkleidung ist hier Distanzmittel, soll aber auch optisch Berufswünsche reflektieren. So entsteht eine bunte, wenn auch nicht immer schlüssige Mischung aus Text, Choreographie und Performance.

Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Inszenierungsebene, auf der die Spieler*innen Kontakt zur Spielleitung im hinteren Teil des Saales aufnehmen und sich gegen die Darstellungsideen wehren, die ihnen „aufgedrängt" wurden. Sie weisen den Zuschauer darauf hin, dass sie gerade nur widerwillig so agieren, weil ihre Spielleitung es so will, der sie wohl oder übel auch vertrauen müssen. Auf dieser Note endet auch das Stück: Ein Spieler sagt, er habe jetzt „keine Lust mehr zu dem Quatsch, er gehe jetzt", und das Publikum solle auch gehen. Beim folgenden Schlussapplaus wird dann hinreichend deutlich, dass die Gruppe allerdings ihrer Leitung sichtbar dankbar ist. Für alle war es vor allem eine angstbesetzte Herausforderung, vor einem Publikum Deutsch zu sprechen.

Szenographisch setzt die Inszenierung keine besonderen Akzente, zumal meist im Bühnenvordergrund kollektiv agiert und das Publikum verbal direkt angesprochen wird. Gerade in solchen Sequenzen wird für das Publikum aber auch spürbar, dass die Gruppe einen ganz spezifischen Raum im Visier der Darstellung hat, ihren neuen Heimatort Lehrte und wie sie ihn erfahren.

Diesen haben sie erkundet und aus ihren Eindrücken kleine Choreographien und von milder Ironie getragene Szenen über ihr Lebensumfeld inszeniert. Als Zuschauer wünscht man sich in dieser Phase, dass die Gruppe evtl. filmische Mittel genutzt hätte, uns ihren neue Heimatort und sich selbst darin agierend nach Halle mitzubringen.

Andererseits kann man auch feststellen: Wenn der Zuschauer die kolportierten Orte nicht kennt, so erkennt er doch Elemente seiner eigenen Welt wieder, gesehen durch die Augen der Neuankömmlinge. Auf diese Weise evoziert die Gruppe letztlich doch Handlungsräume, die der Zuschauer aus dem eigenen Heimatort assoziiert.

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