Hamburg

Michael Aust und Michael Schwinning

Nicht erreichbar

Stadtteilschule Blankenese

Jahrgang 12g

Spielleitung: Kerstin Hähnel

Steintor-Varieté , 50 Min.

nicht erreichbar

Klara oder Marie? - Und wenn ja: Wie viele?

Die Bühne ist ein Spielplatz, diesmal nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch mit einer Lage Sand auf dem Boden und im linken Hintergrund einer Rutsche. An der Seite lehnen zwei Schaufeln. Aus dem Programmheft ist bekannt, dass sich hinter dem Titel nicht erreichbar das aus dem Realismus bekannte Drama Maria Magdalena von Hebbel als Ausgangspunkt verbirgt. Aber als Kind auf einem Spielplatz hat man sich Klara, die Protagonistin, die sich mit einer unehelichen Schwangerschaft im Umfeld einer bigotten bürgerlichen Gesellschaft und Familie auseinandersetzen muss, gar nicht vorgestellt. Oder ist dies ein symbolischer Raum, die Rutsche eine Metapher des Absturzes, der Sand und die Schaufeln ein Hinweis auf ein tödliches Ende, der Sandkasten Inbegriff einer kindlich naiven Zeit der Spielerei, des Aufbauens und Einwerfens, dem Klara entwächst? Oder gar einfach nur die reduzierte Darstellung eines Kampfplatzes, einer Arena, etwa zwischen Familie, Gesellschaft und Individuum? Das Bühnenbild in dieser Vielschichtigkeit erweist sich als eine konsequente Wahl. Möglicherweise wird es zu selten direkt bespielt. Aber alle Themen, die für die Gruppe Bedeutung haben, werden hier sichtbar.

Denn der Oberstufenkurs aus Hamburg bleibt mit seinen Fragen vor allem in der Gegenwart und reflektiert heutige Hintergründe und Probleme bei ungewollten Schwangerschaften in der Jugendzeit. Von Maria Magdalena im Original zeigt er nur Hauptszenen, meist in sprachlich reduzierten Choreographien. Immer wieder erscheint dazu eine Klara im weißen Kleid, die Protagonistin aus Hebbels Stück. So wankt gleich zu Beginn eine Spielerin im einfachen weißen Kleid auf die Bühne. Bei aggressiv-wilder Musik wird ihre innere Aufgeregtheit im wilden Herumagieren und -rennen der anderen Spieler in Schwarz deutlich. Um die Isolation von Familie und Gesellschaft anzudeuten, weisen diese Mitspieler*innen sie gnadenlos ab, „entkleiden" sie und selbst die Gebete der sie umgebenden Figuren zeigen ihre aggressive Haltung gegen das zunehmend verzweifelnde Mädchen. Selbstverständlich könnte ihre Familie die Situation auffangen, aber der Vater weist sie zurück und die Mutter stirbt aus Verzweiflung über die kriminelle Laufbahn ihres Sohnes. So ist Klara der Gesellschaft ausgeliefert. Dies zeigt an einer anderen Stelle das Einfangen der Heldin in einem Spieler*innenkreis, dem sie nicht entkommen kann.

Nur scheinbar eine Idylle

In den Szenen, die die Gegenwart reflektieren, heißt die Protagonistin Marie. Um die Aktualisierung im Raum sichtbar zu machen, besetzen die Spieler*innen die erste Reihe der Zuschauer und durchbrechen damit die imaginäre vierte Wand der Bühne. Von dort unten erfolgen ihre Auftritte, von dort sind sie selbst Beobachter*innen des Geschehens oder Mitspieler*innen in den wechselnden Rollen oder agieren von hier aus mit dem Publikum.

Die Auseinandersetzungen mit dem Geschehen heute finden über gespielte Texte in verschiedenen dialogischen und monologischen Formaten statt. Ein junger Mann mit Heliumherzballon an Bierflasche und eine junge Frau (Marie) mit Koffer treffen sich zum Biertrinken. Sie verrät die Schwangerschaft und löst eine heftige Reaktion des minderjährigen Mannes aus. Eine Jugendliebe aus dem Schulleben heraus, so berichtet der überforderte junge Mann, der nicht der Vater des Kindes ist, monologisch dem Publikum. In der gleichen erzählenden Weise erfährt der Zuschauer, dass die Schwangerschaft die Folge einer leichtsinnigen Partynacht ist. Der junge Mann überlässt Marie ihrem Schicksal.

Die Hilflosigkeit der jungen Frau angesichts ihrer Situation resultiert nicht nur aus der Abwesenheit des Vaters oder eines Freundes, sondern ist auch Ergebnis einer Erziehung, in der die Mutter mehr mit sich selbst als mit dem Kind beschäftigt ist. Im Bewusstsein für wirkungsvolle Effekte zeigt sich dies in einer Szene mit einem realen kleinen Kind, das im Sand mit Marie spielt, während die Mutter sich nur mit ihrem Handy beschäftigt, bis sie feststellt, dass sie eilig weg muss, weil sie sonst einen Termin verpasst hat. Die Abwesenheit des Vaters kulminiert in seiner Unerreichbarkeit. Selbst am Telefon antwortet Marie meistens nur der freundliche Anrufbeantworter eines Anton Meister. Dessen Rückruf geschieht viel später interesselos und offenbar unter großem Zeitdruck.

Dann wechselt die Gruppe die Erzählebene: Der gesellschaftliche Druck, unter dem Marie steht, spiegelt sich im Gieren der Theaterspieler*innen um die besten Rollen wegen der dadurch erreichbaren Noten. Die Szene wendet sich auch ans Publikum, um herauszufinden, wie die Zuschauer mit Leistungsanforderungen umgehen. Mit vollen Tabletts befragen die Spieler*innen die Zuschauer*innen und propagieren Essen, Alkohol und Party als Bewältigungsstrategien.

Marie mehrfach

Dauernde Rollenwechsel, verschiedene Figurensplittings, nachvollziehbar durch einheitlich einfache Kostümierung, Erzählungen zu Requisiten in einem Koffer, Singen des Tabaluga-Liedes Ich wollte nie erwachsen sein, biografische Einschübe, Pantomimen der Emotion im Rücken einer Spielerin, all das sind nur einige weitere Spielformen, die die Gruppe zeigt, um den Konflikt und die Angst, in der sich eine ungewollt schwangere junge Frau auch heute noch befindet, zu verdeutlichen.

Im Gegensatz zu Hebbel endet die aktuelle Geschichte gut. Der Vater des Kindes ist – ganz überraschend – bereit, das Schicksal des Mädchens, das er liebt, mitzutragen.

Der Abiturkurs aus Hamburg zeigt seine Fähigkeiten nicht nur in der konzeptionellen Stimmigkeit und Ambitioniertheit der Inszenierung, sondern im durchweg souveränen und kraftvollen Spiel aller Beteiligten.

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