GesprächsRäume
Johannes Kup„So was sollen wir auch mal machen“, höre ich eine Schülerin neben mir im Zuschauerraum sagen, als der Applaus über eine der insgesamt 16 eingeladenen Inszenierungen zum diesjährigen Festival „Schultheater der Länder“ in Halle 2019 gerade abebbt. Ihre weiteren Worte sind für mich akustisch nicht mehr wahrnehmbar, denn schon beginnt ein allgemeines Gemurmel im Steintor-Varieté, das sich über das Foyer nach draußen auf den Theatervorplatz fortsetzt. Die Gesprächsfetzen, die ich um mich herum vernehme, reichen von begeisterten Eindrücken von dem eben Gesehenen über Assoziationen zu eigenen Spielerfahrungen bis hin zu geäußerten Zweifeln, ob eine solche Inszenierung pädagogisch überhaupt zu rechtfertigen sei.
Zu wohl kaum einem anderen Zeitpunkt im Jahr und an wohl kaum einem anderen Ort in der Republik wird von so vielen Menschen derart intensiv über Schultheater gesprochen wie während des SDL. Neben den zahlreichen informellen Kommunikationsräumen – den Gesprächen im Foyer vor und nach den Aufführungen, beim Mittagessen im Landesinstitut LISA, beim Abendbrot in der Jugendherberge, bei einem Getränk in der Festival-Kneipe „Evergreen“ oder bei einem Stadtspaziergang durch Halle – sieht das Festival wie immer auch formelle Gesprächsräume vor, wie etwa die Fachforen für die Spielleiter*innen und Fachtagungsteilnehmer*innen oder die Schüler*innennachgespräche. Letztere werden als moderierte „Face-to-Face“-Gespräche organisiert, an denen jeweils zwei unterschiedliche Spielgruppen teilnehmen. Darüber hinaus werden in diesem Jahr weitere, semiformelle Gesprächsräume eingerichtet, wie z. B. im Festivalzentrum, in dem die Geheime Dramaturgische Gesellschaft ihr „Basislager“ aufgeschlagen hat. Neben Kennenlernen-Treffen, Papierflieger-Contests oder Karaoke-Abenden finden hier zusätzliche „alternative Nachgespräche“ zu den einzelnen Aufführungen statt.
Wie schon in den letzten Jahren lässt sich auch bei diesem Festival eine zunehmende Tendenz zur „Formatierung“ dieser Gesprächsräume erkennen. Die Nachgespräche in den Fachforen etwa laufen schon seit 2016 nach einem bestimmten Konzept ab. Demzufolge sollen die Fachforumteilnehmenden zunächst einen beschreibenden Satz zu einem Aspekt der Aufführung notieren, an den sie sich am besten erinnern können. Anschließend werden diese Sätze bzw. einzelne Worte daraus von der*dem Moderator*in an der Wand thematisch geclustert. Schließlich folgt eine Diskussion zu den einzelnen Themen-Clustern. Den Moderator*innen bleibt es jedoch weitgehend freigestellt, wie sie genau bei der Gesprächsleitung verfahren. Manche Fachforumleiter*innen wenden daher auch alternative Gesprächsformate an, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erfordernissen eines Sprechens über Schultheater besser gerecht zu werden. Doch nicht nur die Fachforen, sondern auch die Schüler*innennachgespräche und nicht zuletzt die Angebote im Basislager zeichnen sich durch vielfältige innovative Formatierungen aus. So schickt etwa die Geheime Dramaturgische Gesellschaft die Teilnehmer*innen zur Gesprächsanstiftung auf einen „Sprachziergang“, bei dem sie sich – möglichst mit einer ihnen noch unbekannten Person – über die Inszenierung unterhalten. Oder sie lässt zwei Teilnehmende ein Nachgespräch anonym per Handy führen.
Der Trend zu solchen Formaten lässt sich als Versuch verstehen, dem viel beobachteten kommunikativen „Loop“ auf dem SDL zu entkommen, dem ewigen pädagogischen Schleifendrehen („So etwas ginge mit meinen Schülern nicht...“) zu entgehen und wieder eine Konzentration auf den eigentlichen Gegenstand zu ermöglichen – oder, wie es Christoph Scheurle ausdrückt: „diskursiv im Raum der Theateraufführung zu bleiben“.
Im Folgenden möchte ich ausgewählte Beispiele solcher Formatierungen von Gesprächsräumen beim letzten SDL vorstellen und ausgehend davon aktuelle Herausforderungen des Sprechens über Schultheater diskutieren.
Die Fachforumleiter*innen Kerstin Hetmann und Sebastian Grese arbeiten mit einem Nachgesprächsformat, das ursprünglich von Maike Plath für Feedbackrunden entwickelt und beim SDL 2017 in Potsdam unter der Leitung von Heike Schade und Heike Licht erstmals bei den Schüler*innennachgesprächen eingesetzt wurde. Das Konzept zielt gleichzeitig auf eine stärkere Orientierung am Gegenstand – d. h. der konkret gesehenen Aufführung – sowie auf die Bestärkung der jeweiligen Spieler*innen. Dazu halten die Teilnehmenden zunächst ihre Lieblingsmomente der Aufführung („Magic Moments“) auf DIN-A-5-Karteikarten fest und stellen sie begründet der gesamten Gruppe vor. Anschließend können die Zuschauer*innen den an der jeweiligen Produktion Beteiligten in einer „Pressekonferenz“ Fragen stellen. Im letzten Teil dürfen sich die Spieler*innen in einer „Präsidentenrunde“ von den Zuschauer*innen zu Aspekten ihrer Wahl Rat einholen. Zum Schluss erhalten die Spieler*innen die „Magic Moments“ überreicht.
Kerstin Hetmann und Sebastian Grese haben diese Feedbackmethode auf das Fachforum für Spielleiter*innen und Fachtagungsteilnehmer*innen übertragen. Auch sie beginnen mit einer Runde „Magic-Moments“, die von den Teilnehmenden auf Zetteln notiert und anschließend vorgelesen werden. Die einzelnen Lieblingsmomente sollen sich dabei möglichst an zuvor als Karten ausgelegten Kategorien theatraler Gestaltung (Raum/Bühne, Spielweise, Dramaturgie etc.) orientieren bzw. diesen zuordnen lassen. Anschließend filtern die Moderator*innen durch Nachfragen eine zentrale Frage heraus, die die weitere Diskussion bestimmt. Wesentlich für das Gelingen dieser Methode sind die in Anlehnung an Maike Plath entwickelten Joker-Karten, wie z. B. die Karte „Klarheit“, die Teilnehmende dann ziehen können, wenn ihnen ein Beitrag nicht verständlich genug ist und noch einmal genauer formuliert werden soll. Sind die Spielleiter*innen im Nachgespräch anwesend, so lassen sich auch hier die nächsten Schritte „Pressekonferenz“ und „Präsidentenrunde“ durchführen.
Bereits zum zweiten Mal ist die Geheime Dramaturgische Gesellschaft (GDG) beim Schultheater der Länder vertreten. Nachdem sie sich bereits am Festival 2016 in Erfurt beteiligte, wurde sie nun in Halle damit beauftragt, im Festivalzentrum im alten Sparkassengebäude gleich neben dem Steintor-Varieté ein „Basislager“ einzurichten, das gleichzeitig Austausch- und Rückzugsort sowohl für die Spieler*innen als auch die Fachtagungsteilnehmer*innen und Spielleiter*innen ist. Dabei geht es der Gruppe vor allem darum, mit dem Basislager einen Raum zu schaffen, in dem man gerne verweilt und in dem es – unabhängig von den einzelnen Nachgesprächszeiten – verschiedene Möglichkeiten gibt, die eigenen Eindrücke, Fragen und Kritikpunkte zu äußern und mit anderen zu teilen. So hat die GDG beispielsweise Briefkästen im Raum aufgehängt, in die man anonym Briefe einwerfen kann, die man sich sonst möglicherweise nicht zu schreiben getraut hätte. Oder es gibt eine Box mit Themen, über die man sich unterhalten kann.
Die GDG hat sich insbesondere auf alternative Nachgesprächsformate spezialisiert, die sie auch im Schultheaterkontext schon mehrfach erfolgreich durchgeführt hat, wie z. B. beim Schülertheatertreffen Sachsen. Die Angebote der GDG sind als Ergänzung zu den Fachforen und den Face-to-Face-Schüler*innennachgesprächen gedacht, bei denen sich Schüler*innen von zwei Spielgruppen ‚im Tandem‘ über ihre beiden Produktionen austauschen. Ausgehend von dem Wunsch vieler Schüler*innen, auch über die anderen Aufführungen zu sprechen, bietet die GDG im Basislager verschiedene Austauschformate an. Nach jeder Aufführung wird z. B. eine große Plane ausgelegt, auf der man seine Eindrücke schriftlich festhalten kann (vgl. Audio-Interview mit Vincent Kresse von der GDG). Darüber hinaus gibt es alternative Nachgespräche wie z. B. die „Kartographie“ oder das „Unbeschriebene Blatt“, die von der GDG unter anderem im Handbuch des Performing Arts Programm Berlin ausführlich beschrieben worden sind (s. Download-Link zum PAP-Handbuch). Bei der Kartographie etwa erkunden und vermessen die Zuschauer*innen nach der Aufführung den Bühnenraum, „...indem sie ihre Gedanken, Erinnerungen und Fragen auf Post-Its schreiben und diese in den Aufführungsraum kleben“ (PAP-Handbuch, S. 19).
Darüber hinaus führt die GDG Nachgesprächsrunden im Basislager durch, in denen die Schüler*innen – ähnlich dem Vorgehen Kerstin Hetmanns und Sebastian Greses – ebenfalls zunächst einen Lieblingsmoment der Aufführung, ein Wort oder Ding, über das sie nachdenken mussten, nennen und ausgehend davon weitere Fragen und Themen entwickeln. Nach dieser ersten Phase besprechen sich die Schüler*innen in den bereits erwähnten Kleingruppenformaten wie z. B. einem „Sprachziergang“ oder einem anonymen Handygespräch. Durch diese kleineren Austauschmöglichkeiten soll die oft starre Form des Nachgesprächs im Kreis durchbrochen werden, bei der in der Regel immer dieselben Personen sprechen und viele Schüler*innen sich nicht zu reden trauen (vgl. Interview mit Vincent Kresse). Erst nach diesen Partner- bzw. Kleingruppenphasen kommen wieder alle in der Großgruppe zusammen, in der gemeinsame Fragen an die Inszenierung formuliert werden und in verschiedenen Themenecken (z. B. zu „Raum“, „Text“, „Prozess“) weitergearbeitet werden kann.
Wie dieser Blick auf ausgewählte GesprächsRäume beim SDL gezeigt hat, liegt ein besonderes Potential einer (alternativen) Formatierung von Nachgesprächen darin, herkömmliche und oftmals eingefahrene Formen des Sprechens über Aufführungen aufzubrechen und dadurch Teilnehmer*innen zu Wort kommen zu lassen, die sich in einer einfachen Gesprächsrunde eher weniger beteiligen würden. Besonders in den Fachforen ermöglicht ein Verfahren, wie es etwa Kerstin Hetmann und Sebastian Grese anwenden, nicht nur einen stärkeren Fokus auf den eigentlichen Gegenstand – die Theateraufführung –, sondern auch ein wertschätzendes und die Spielleiter*innen bestärkendes Feedback, das in manchem Fachforum bisweilen etwas zu kurz kommt. Dies bedeutet nicht, dass es hier allein bei schönen Worten bleiben soll – im Gegenteil: Eine zentrale Herausforderung gerade beim SDL ist es ja, Kommunikationsräume zu schaffen, in denen konstruktive Kritik möglich wird – eine Kritik, die die einzelne Inszenierung auch als künstlerisches Produkt erst nimmt! Hilfreich hierbei ist möglicherweise ein erster Austausch in kleineren Gruppen – ggf. zunächst einmal ohne die an der Inszenierung Beteiligten –, wie er etwa in vielen Fachforen oder von der GDG mit ihrem „Sprachziergang“ bereits praktiziert wird. Auch eine „Gossip-Runde“ – ähnlich dem DasArts-Feedback-Verfahren – wäre hier denkbar. Doch sind „Formate“ kein Allheilmittel. Auch stellt sich die Frage, ob der ‚unmoderierte‘ Austausch der Teilnehmer*innen wirklich zu einer angemessenen Form der Kritik führt oder ob es in manchen Phasen eines Nachgesprächs nicht doch einer Moderation bedarf, die erst einmal auf einem Beschreiben des Gesehenen besteht und das Gespräch dadurch auch stärker lenkt. Zentral bleibt jedoch, dass von dem eigenen Erleben, den Eindrücken und Beschreibungen der Teilnehmer*innen auszugehen ist, und diese nicht durch zu viele vorgegebene Kategorien überlagert werden dürfen (vgl. Feller/Kresse/Mahn 2019, S. 10ff.).
Eine weitere Herausforderung besteht in den heterogenen Voraussetzungen, mit denen sowohl die Fachforumteilnehmenden als auch die Schüler*innen zum SDL kommen. So gibt es häufig kein gemeinsames Vokabular, mit dem über die einzelnen Produktionen gesprochen werden kann. Aus diesem Grund drehen sich die Schüler*innennachgespräche häufig eher um die Inhalte der Inszenierungen als etwa um Inszenierungsstrategien, wie Anne Küper, Studentin des Studiengangs „Inszenierung der Künste und der Medien“ in Hildesheim, beim SDL beobachtet. Dies liegt nicht selten daran, dass es in manchen Bundesländern gar kein Schulfach Theater/Darstellendes Spiel gibt und der Fokus der einzelnen Gruppen oft ein vollkommen anderer ist. Einen interessanten Hinweis, wie diesem Problem begegnet werden könnte, gibt Vincent Kresse von der GDG: So gibt es z. B. beim Schülertheatertreffen Sachsen für die jeweiligen Teilnehmenden einer Gesprächsgruppe noch vor der ersten Aufführung einen Workshop, in dem gemeinsame Kriterien festgelegt werden, die dann den Nachgesprächen als Grundlage dienen (vgl. Interview mit Vincent Kresse). Außerdem wird dabei jede beteiligte Spielgruppe in verschiedene Gesprächsgruppen aufgeteilt, was zu einer größeren Durchmischung der Schüler*innen führt. Auch dies wäre mit Blick auf das SDL besonders wünschenswert, bleiben doch die Spielgruppen häufig unter sich, was sich u. a. in der Tandem-Struktur der Face-to-Face-Schüler*innen-nachgespräche bedingt.
Welches Format auch gewählt wird, es ist immer darauf hin zu befragen, welche Kommunikationsräume es befördert oder möglicherweise auch verhindert. Vielleicht wäre es ebenso denkbar, auch einmal performative und durchaus auch non-verbale Feedback-Verfahren – z. B. in Form von performativen Aktionen in Bezug auf eine gesehene Aufführung – zu erproben, wie sie etwa Virginia Thielicke in ihrer Dissertation „Antworten auf Aufführungen“ vorschlägt und im Rahmen des Theatertreffens der Jugend bereits erfolgreich durchgeführt hat. Die Suche nach der richtigen „Formatierung“ der Kommunikation über (Schul-)Theater hat gerade erst begonnen und nicht zuletzt die vielen häufig aus studentischen Kontexten hervorgegangenen Initiativen wie die GDG oder die Hannoveraner MelkenAG bieten hierbei wertvolle Anregungen.