In den Echokammern des Schultheaters
oder: Wo ist Raum für den Diskurs?
Christoph ScheurleEs gibt ein Stück von Christian Morgenstern, das nicht nur die Kommunikationsräume des SDL geradezu hellseherisch vorweggenommen hat, sondern die Kommunikation in Kunsträumen generell und geradezu idealtypisch abbildet. Im Literatur-Café treffen sich die Kritiker*innen und Kenner*innen, ordnen die Kunst-Welt und drehen dabei in einer Art intellektuellen Moebiusband ihre Gedankenschleifen.
Die literarischen Erzeugnisse, an die sie ihre Gedanken angliedern, sind dabei weniger Gegenstand ihrer Betrachtungen als Anlass, ihre prinzipiellen Haltungen und Sichtweisen zu äußern.
Dabei trachten sie, sich mal von innen, mal von außen zu überholen, und verbleiben doch in ihrem eigenen Gedankenkosmos, der, markiert durch die immer wieder gleichen Wegmarken, seine autistischen Schleifen dreht.
MEIER. Wie hat Ihnen „Der Schleifstein" gefallen?
MÜLLER. Danke, soso.
SCHIMPER. Haben Sie gelesen, was Schnauz darüber geschrieben hat?
MEIER. Schnauz? Im »Journal«?
SCHIMPER. Nein, im »Literaturblatt«.
PFEIFFER. Das finde ich noch viel zu gut…
etwas später im Stück…
PFEIFFER. Wer ist eigentlich Kuno?
SCHIMPER. Unter Kuno schreibt Wiedehopf in der »Kabuner Zeitung«.
PFEIFFER. Er weist riesig fein nach, daß im »Tasso« das Problem schon einmal angeschnitten worden ist.
SCHIMPER. Wer? Schnauz?
PFEIFER. Nein, Kuno.
MEIER. Wer ist Kuno?
SCHIMPER. Unter Kuno schreibt Wiedehopf in der »Kabuner Zeitung«.
Noch etwas später…
SCHNAUZ. (tritt ein) Na, wie hat Ihnen der »Schleifstein« gefallen?
(Morgenstern 2001: »Im Literatur-Café«, S. 314-317)
Morgenstern beendet die Szene mit dem Hinweis „usw.“ Die Geschichte kommt also zu keinem Ende, sondern beginnt mit jedem Eintritt einer/eines neuen Protagonistin/Protagonisten von vorne. Als Loop getreu dem Motto: Es ist zwar alles gesagt, aber noch nicht von jedem. Diedrich Diederichsen greift in seinem Buch Eigenblutdoping (2008) das Motiv des Loops auf, um eine solche, permanent um sich selbst kreisende Gedankenkette zu beschreiben:
»Alle wollen, dass es weitergeht… Der Loop ist nicht einfach das Gegenteil sinnvoller Geschichte, er ist nicht einfach die ewige Wiederkehr. (…) Der Loop kennt keinen Prozess, der Loop lässt es gar nicht soweit kommen. Man kann jederzeit aussteigen, ohne etwas verpasst zu haben.« (Diederichsen 2008: 17-18.)
Willkommen im Asperger-Universum, in dem die Diskussion, »ob es als Krankheit oder als eine Normvariante der menschlichen Informationsverarbeitung eingestuft werden sollte«, immer noch »uneinheitlich beantwortet« wird (Wikipedia).
Das ist letztlich auch eine Entscheidung zwischen einer künstlerischen Perspektive und einer, in der ein Erkenntnisgewinn als intellektuell zu kapitalisierender Fortschritt gefeiert wird.
Man könnte jetzt dazu neigen zu sagen: Ja, das ist der ewige Kreislauf des Lebens. Man erkennt sich in der Beobachtung der oder des Anderen und sucht sich in den Phänomen seine Bestätigung. Das Festival Schultheater der Länder ist insofern nichts anderes als eine Echokammer, in der wir uns jedes Jahr die Versicherung holen, dass die Dinge so sind, wie wir annehmen, dass sie sind:
Die Resultate selbst sprechen eine deutliche Sprache.
Die Sachzwänge, die zu den Resultaten geführt haben bestätigen es.
Die Menschen, die auf dem Festival waren, bekräftigen es.
Das erinnert an die Niederungen der Politik, in der die Alternativlosigkeit des eigenen Handelns – oder auch nicht-Handelns – zum vorherrschenden Narrativ wird, wenn man nicht mehr weiterweiß.
Im Prinzip ist es unerheblich, ob man nun den Vorgängen auf der Polit-Bühne folgt, oder den auf einer (Schul-)Theaterbühne: »Ich bin Publikum, und das Theater wie die Theaterkritik bewerben sich um meine Gunst.« Wie Christian Morgenstern in seinen Überlegungen zu »Theater, Kritik, Publikum« verzweifelt feststellt. (Morgenstern 2001: »Theater, Kritik, Publikum«, S. 531) Als Rezipient*in müsse man sich daher zwischen seinem »nationalökonomischen Gewissen« (ebd.: S. 532), das einem opportunistisch zurate, sich auf die Seite der Kritik zu schlagen, und der Hoffnung entscheiden, dass einem die Theatermenschen »auch heute nichts ganz Dummes« (ebd.: S. 534) zeigen werden. So findet man sich im Raum des Theaters gewissermaßen zwischen (Be-)Deutungsproduktion und ästhetischer Erfahrung gefangen.
Das Erheiternde und gleichzeitig Erschreckende ist, dass sich die Gegenstände ändern mögen, die diskursive Behandlung jedoch bleibt die Gleiche. Ein Umstand, den Michel Foucault in seiner Archäologie des Wissens (1981), dadurch charakterisiert hat, dass zwar weder die Gegenstände »noch der Bereich, den sie bilden« - also in unserem Fall das Schultheater, das SDL in all seinen unterschiedlichen Formatierungen – gleich bleiben, wohl aber »das Inbeziehungsetzen der Oberflächen, wo sie erscheinen, sich abgrenzen, analysiert werden und sich spezifizieren können.« (Foucault 1981: 71)
Ist das denkbar: Ist das SDL ein Ort, an dem der Diskurs wie im Literatur-Café seine Schleifen dreht, obwohl der Kaffee doch jedes Jahr frisch ausgeschenkt wird?
Nach sechs Jahren der Beobachtung gibt das Festivalthema Theater.Raum gute Gelegenheit, sich als Essayist auch einmal kritisch selbst zu befragen. Über was habe ich mir die letzten Jahre auf und im Rückblick auf das Festival Gedanken gemacht, über die dargebotenen Inszenierungen oder über meine eigene Befindlichkeit? Und bin ich der Einzige, der das so gehandhabt hat oder habe ich Mitspieler*innen im Café SDL?
Hier eine Übersicht von Formulierungen, die ich im Nachhall von Festivalaufführungen der vergangenen Jahren in den unterschiedlichen Diskursräumen – Aufführungen, Fachforen und Fachtagen – gehört, notiert, selbst getätigt oder auch nur gedacht habe (ich gestehe: immer wieder), die aber auch ganz unabhängig von mir und nach Foucault womöglich auch unabhängig von den gezeigten Aufführungen zirkulieren:
„Ich hatte den Eindruck, die Schüler*innen wussten selbst nicht so richtig, was sie da gemacht haben."
„Den Schüler*innen selbst ist kein Vorwurf zu machen. Es liegt in der Verantwortung der Spielleitung, die Dramaturgie des Abends wesentlich zu bestimmen."
„Das hätte man den Schüler*innen so nicht durchgehen lassen sollen."
„Ein absolutes Klischee. Wenn ich Medienkritik (hier wahlweise einen anderen Begriff – bspw. Sozialkritik – einfügen) üben will, dann kann ich die Vorgänge nicht einfach 1:1 nachspielen, sondern ich muss als Spielleitung dafür Sorge tragen, dass diese dargestellte Wirklichkeit behandelbar, d.h. kritisch gezeigt wird."
„Fernsehen kann Fernsehen besser als Theater, was das Theater besser können sollte, wäre mediale Fernsehwirklichkeit und die Praxen des Fernsehen kritisch darzustellen, so dass ein Mehrwehrt entsteht.“
„Welche Figur auf der Bühne gezeigt werden sollte, habe ich schon erkannt, aber wo war die Person/Persönlichkeit, die mir diese Figur schmackhaft gemacht hätte?"
„Man sollte sich seiner Mittel bewusst sein, bevor man sie einsetzt, wer weiß, wo es einen sonst hinträgt."
„Das Verhältnis der Darsteller*innen zum Dargestellten ist mir völlig unklar."
„Wo war denn jetzt das Festival-Thema?"
usw.
Ähnliche Memoranden lassen sich auch in Bezug auf den Fachtag – nur noch etwas eitler – finden:
„Warum hat man jetzt diese*n Sprecher*in zu diesem Thema eingeladen?"
„Warum muss mir ein*e Sozialwissenschaftler*in (hier wahlweise Theologe/Theologin, Agrarwissenschaftler*in, Politikwissenschaftler*in etc. einfügen) seine/ihre Vorstellung von Theater vermitteln? Wieso spricht er/sie nicht über die eigene Fachdisziplin, von der er/sie bestimmt mehr versteht?"
„Was hat denn das jetzt mit dem Thema zu tun?"
„Reden wir jetzt im Ernst und immer noch über den Unterschied und den Vorzügen von performativen Darstellungsformen vs. dramatischen Darstellungsformen?"
Und auch auf der dritten Plattform, den Fachforen, sehe ich mich über die Jahre mit gleichbleibenden Fragen konfrontiert:
„Warum unternimmt niemand den ernsthaften Versuch, einen rein beschreibenden Satz zu formulieren?"
„Schafft es heute jemand tatsächlich, einen Satz (einen Satz) aufzuschreiben, der ohne Wertung auskommt?"
„Wieso ist es so schwer, (s)einen Satz unkommentiert stehen zu lassen?"
„Kann es (bzw. wieso kann es nicht) gelingen, eine Diskussion über Aufführungen zu führen, die tatsächlich bei dem Ereignis der Aufführungen bleibt, sich mit den Effekten und Affekten dieser befasst und darauf verzichtet, darüber zu spekulieren, welches die Hintergründe für diese oder jene ästhetische Entscheidung war?"
„Warum reden wir eigentlich tendenziell immer eher über die Produktionsbedingungen statt über das Produkt?"
Mit anderen Worten: Warum gelingt es eigentlich so wenig, diskursiv im Raum der Theateraufführung zu bleiben?
Das ist nicht nur wegen der von Foucault festgestellten Struktur von diskursiven Räumen eine Herausforderung, sondern auch deswegen, weil das Publikum konstitutiver Bestandteil der Aufführung ist. Die autopoetischen Feedbackschleifen (vgl. Fischer-Lichte 2010: 59), die während der Aufführung zwischen Darsteller*innen und Zuschauer*innen zirkulieren, sind wesentlich auch gespeist von den Dispositionen der Zuschauenden. Der Raum, der sich im Aufführungsereignis erst konstituiert (siehe auch Ole Hruschka in diesem Band), ist damit auch wesentlich von den unterschiedlichen Haltungen der Rezipient*innen geprägt. Was in der Aufführung jedoch zunächst noch als »produktive Ergänzungsleistung« (Kurzenberger) des Publikums verstanden werden mag, bestimmt in Nachgesprächs- und Reflexionsformaten überwiegend den Diskurs. Dann geht es nicht mehr um das Phänomen der Aufführung, sondern um die ästhetische Erfahrung in der Rezeption, die Peter Pilz als krisenhaftes Ereignis beschrieben hat.
Kommunikation – das ist nichts Neues – bringt eigene soziale Wirklichkeiten hervor und insofern konstituieren die Diskussionsräume des Festivals immer ihre eigenen diskursiven Wirklichkeiten und Regelsysteme, in denen allerdings – so mein Eindruck – die Aufführungen oftmals gar nicht mehr im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr die Vorbehalte, Fragen und Indifferenzen der Beobachtenden selbst, ohne dass sich diese – und ich schließe mich hier ausdrücklich mit ein! – dieses Umstands immer bewusst sind. Die Festivalteilnehmer*innen als Publikum stehen hier nicht nur in »Bezug auf sich selbst und die eigene Beobachtungsoperation (…) zum Zeitpunkt des Beobachtens [also hier der Aufführung; CLS] im blinden Fleck« (Schlögl 2008: S. 167), sondern sie tun es auch in den Momenten der Reflexion über das Wahrgenommene, vor allem dann, wenn sie Ihre Haltungen und Emotionen auf das Phänomen der Aufführung projizieren ohne sich dessen völlig im Klaren zu sein.
Vereinfacht ausgedrückt gilt es, sich immer wieder selbst des Raumes zu versichern, in dem man sich diskursiv befindet. Wovon ist die Rede? Spreche ich gerade über das Wahrgenommene oder spreche ich über mich?
Sartre hat sich womöglich folgenschwer geirrt: Die Hölle, das sind gar nicht die anderen, sondern das sind die Vorstellungsbilder meiner normativen Zurichtung, von denen ich mich nicht befreien kann; die mich nicht nur bis in meine Träume verfolgen, sondern auch das Dispositiv sind, aus denen ich mir mein ideales Theaterbild zusammenfantasiere. (Vgl. Sartre 2012: Geschlossene Gesellschaft)
Es gilt den Realitäten ins Auge zu schauen und Verantwortung für das eigene Denken zu übernehmen. Daraus lässt sich dann gegebenenfalls auch Genuss für die Rezeption der Kritik ziehen, für die Morgenstern eine künstlerische Haltung empfiehlt:
»Ich frage nicht danach, ob der Dichter recht hat oder nicht, ich suche ihn nur als Künstler, nicht als Kritiker. Schließlich hat die Theaterkritik mit dem Theater gar nichts zu tun. Jenes ist freie Kunst und ein Theateressay eine freie Phantasie über einen Theaterabend.« (Morgenstern 2001: »Publikum, Kritik, Theater«, 535)