Der ideale Raum? Kleine Topografie des Schultheaters
Ole HruschkaMit dem Thema „Raum.Bühne” zielte das diesjährige Schultheater der Länder ausdrücklich nicht auf die Bespielung urbaner Räume, auf Stationentheater oder site-specific-Formate. Stattdessen wollte das Festival vor allem zu einem innovativen Umgang mit dem in der Schule zur Verfügung stehenden Raum anregen. Den Veranstalter*innen des BVTS war dabei natürlich bewusst, dass Schultheater oft mit schwierigen Rahmenbedingungen zu kämpfen hat. Diese sind auch darauf zurückzuführen, dass Darstellendes Spiel/Theater ein relativ neues Fach ist, dessen Ansprüche in Bezug auf Raum und Ausstattung in der Architektur bestehender Schulgebäude nicht berücksichtigt sind. Das Festival richtete den Fokus also auf einen wunden Punkt: Welche Bühnenräume sind für die Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen überhaupt geeignet – und welche eher nicht? Welche künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten gibt es hier? Inwiefern bestimmen sie die Wirkung einer Aufführung?
Tatsächlich habe ich in Halle eine Art brainstorming zur Einrichtung von Bühnenräumen erlebt. Einige – hier nur sehr kurz skizzierte – Beispiele: In der Eröffnungsproduktion „Wenn es irgendwie um alles geht” aus Sachsen wurden die Spielenden in den leeren Raum geworfen, um dann in einem Akt der existentiellen Selbst-Behauptung pantomimisch die imaginäre vierte Wand einzureißen („Wir laufen durchs Schultor ins Freie!”). Im Gegensatz dazu zeigte die Berliner Inszenierung einen recht hermetischen fiktionalen Innenraum – passend zu Kafkas Prosatext „Der Bau”. Der niedersächsische Beitrag „raumdeutungen” mit Sprachlerner*innen wiederum thematisierte die brisante Frage, wer in unserer Gesellschaft überhaupt befugt ist, auf einer Bühne zu stehen und zu sprechen. Besonders bemerkenswert mit Blick auf das Festivalthema war auch die produktive Nutzung der Arenabühne in den Produktionen „Cut” aus Bremen und „Kasimir und Karoline” aus Bayern.
Doch trotz solcher und anderer bemerkenswerter Festival-Produktionen blieb weitgehend ungeklärt, nach welchen Kriterien man Spielorte auswählen und wie man mit den oft schwierigen räumlichen Voraussetzungen im Schultheater umgehen kann. Schulhof, Pausenhalle, Sporthalle, Klassenzimmer und Aula – dies sind die Räume, die man gemeinhin mit der Institution Schule verbindet. Doch kaum eine der Festivalproduktionen setzte sich dezidiert mit einem typisch-schulischen Kontext auseinander. Das Thema Raum wurde häufig auf einer anderen textlich-inhaltlichen Ebenen verhandelt: vom Mutterleib über mangelnden Wohnraum bis hin zur Weltreise oder digitalen Räumen.
Das Thema Raum lenkte meine Aufmerksamkeit denn auch zunehmend, ohne dass ich dies zuvor beabsichtigt hätte, auf die pragmatischen Zwänge innerhalb dieses sehr großen Festivals, das täglich 500 Menschen (Spielgruppen, Spielleitung, Fachpublikum) unterbringen muss. Unter künstlerischen wie pädagogischen Gesichtspunkten finde ich es alarmierend, dass die Zuordnung der Festivalspielstätten unter den Spielgruppen Begehrlichkeiten und Konkurrenz auslöste: Während die morgendlichen Aufführungen parallel an verschiedenen kleineren Spielstätten stattfanden, waren an die allabendlichen Veranstaltungen auf der traditionsreichen Showbühne des Varieté Theaters besondere Erwartungen geknüpft. Die Aura einer großen Bühne, auf der sonst prominente Comedians wie Kurt Krömer, Dittsche und Jürgen von der Lippe auftreten, weckte Hoffnungen auf den ganz großen Auftritt – bei den Jugendlichen, aber auch bei manchen Spielleiter*innen.
Wer aber auf einer solchen Guckkastenbühne „einfach nur Theater spielen” möchte, der hat bereits eine ästhetische Entscheidung getroffen. Ohne die Leistung der hier gezeigten, teils herausragenden Produktionen schmälern zu wollen, gilt: Das Varieté Theater mit seinem riesigen, goldumrandeten Portal ist für deftige Pointen gemacht, für virtuose Tanzeinlagen oder kernige Rock n’ Roll-Gesten – für Schultheater ist es dagegen wenig geeignet. Die Spieler*innen mussten hier sehr weit entfernt vom Publikum agieren; auch mit Mikro hatten sie oft Mühe, den Raum zu beherrschen und Souveränität zu erlangen. Mit anderen Worten: Gesteigerte gegenseitige Wahrnehmung, intime Interaktion, soziale Aufmerksamkeit – alles, was Schultheater als Gemeinschaftsform aus meiner Sicht auszeichnen sollte, wurde in diesem Raum erschwert.
Doch dieser ernüchternden Einschätzung lässt sich auch etwas Positives abgewinnen. Meine These ist: Gerade durch diese Widrigkeiten wurden die Chancen, Möglichkeiten und Grenzen von Raumkonzepten im Schultheater umso deutlicher sichtbar – und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens prägt der Theaterraum die jeweilige Theaterform: Der Raum ist dafür ein wichtiges erstes Indiz, d.h. er ist grundlegend für das in einer Aufführung zum Ausdruck kommende Theaterverständnis. Zweitens regelt der Raum die individuellen und kollektiven Entfaltungsmöglichkeiten der Beteiligten. Spielräume haben zwar nicht per se eine bildende Wirkung, können jedoch verschiedene Erfahrungsdimensionen eröffnen und verstärken: Die Bühne kann ein ‚magischer‘ Ort der Verwandlung und der Repräsentation sein, sie kann als Experimentierfeld und Labor eingerichtet sein, Begegnungen mit dem Publikum stiften (usw.). Drittens schärften die Aufführungen in Halle wie gesagt das Bewusstsein für organisatorische und strukturelle Bedingungen des Festivals selbst: Wie entscheidet sich eigentlich, an welcher Spielstätte die Festivalproduktionen gezeigt werden? Welche Kriterien gelten für die Zuordnung der Spielstätten? Wie verläuft der Abstimmungsprozess darüber, auf welche Weise ein Raum bespielt wird?
„Bühnenkunst ist Raumkunst”, schreibt der Theaterwissenschaftler Max Herrmann (vgl. Roselt 2005, 260 - 267). Warum aber ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Raum ausgerechnet im Schultheater so wichtig? Bereits zum vierten Mal beschäftigte sich das SDL mit dem Thema Raum. Diese Häufung kann kein Zufall sein! Sie ist vermutlich – etwas pathetisch formuliert – auf das Bedürfnis zurückzuführen, schulische Räume nicht einfach als ‚gegeben‘ hinzunehmen, sondern sie als etwas anzusehen, das wir durch unser Tun selbst hervorbringen. Die Idee, räumliche Begrenzungen aus dem Alltag spielerisch zu erforschen und zu hinterfragen, um so bestehende Ordnungen zu überschreiten, ist für das Schultheater von sehr grundsätzlichem Interesse. Geschärft wird so das Bewusstsein für die Haltungen und Hierarchien, die im System Schule eng mit den vorherrschenden Raumordnungen korrespondieren. Der Sozialraum Schule ist nicht zuletzt eine „demokratische Herausforderung”, in dem Formen der „anderen Teilhabe und geteilten Verantwortung” realisiert werden können, so die Bildungsforscherin Kristin Westphal. Räume der kulturellen Bildung können demnach einen „Appell zur Teilhabe” enthalten ebenso wie „zum Ausschluss” (Westphal 2018, 111-124). In diesem Sinne hängt die besondere Aufmerksamkeit für Räume eng mit einer gesteigerten Sensibilität für Diversität, für kulturelle Unterschiede und gesellschaftliche Machtverhältnisse zusammen: Aktuelle Versuche, öffentliche Räume temporär mit anderen Spielregeln und Verhaltenscodes aufzuladen, sind auch politisch hochbrisant – man denke an die Theatralität von Protestaktionen und Demonstrationen. Die Rede vom Theater als besonderen Spiel-, Experimentier- oder Verhandlungsraum ist daher mehr als nur „rhetorischer Schmuck”. Mit der „Meta-Metapher des Raums” werden bestimmte kommunikative Vereinbarungen, Rahmungen und Handlungslogiken beschrieben, die ‚Theater‘ als Darstellungsform auszeichnen (Köster 2014, 278-296). Die Konjunktur der Raum-Metapher wie des Festival-Themas hat mit dem Bedürfnis nach „anderen Räumen” mit anderen Gesetzmäßigkeiten zu tun (Foucault 1991, 34-46). Die Gestaltung von Räumen birgt also ein utopisches Potential – und ein Risiko, das sich im Laufe des Theaterprozesses produktiv machen lässt: Spielleitung und -gruppe stehen vor der Frage, ob sie gleich zu Probenbeginn von einer unumstößlichen räumlichen Setzung ausgehen wollen – oder aber, ob sie bereit sind, das Verhältnis zwischen Spielenden und Publikum immer wieder auf die Probe zu stellen und womöglich noch in der Aufführung zu verändern. Solche szenischen Verfahren, die den live-Charakter von Theater betonen und den Zuschauer*innen auch ganz eigene, individuelle und überraschende Erfahrungen mit Räumen ermöglichen, habe ich in Halle besonders vermisst.