Workshopbericht:

Der gestaltete leere Raum

Tilmann Ziemke

Im DS-Unterricht, aber auch in der Theater-AG fehlt es oft an Zeit, um sich ausführlich mit der Gestaltung des Bühnenraumes auseinanderzusetzen. Deshalb wird gerne im leeren Raum gespielt. Dieser Workshop will Theaterlehrer*innen Mut machen, sich im Unterricht und auf den Proben dem Thema „Bühnenraum und Bühnenbild“ zuzuwenden und eine Unterrichtseinheit / Probeneinheit dazu durchzuführen. Im Vordergrund dieser Einheit steht nach einem theoretischen Input wie immer im Darstellenden Spiel die praktische Arbeit.

Natürlich kann man auch im leeren Raum spielen, aber: Ein gestalteter Bühnenraum verleiht dem Spiel Flügel!

Wie anfangen?

Viele Schüler*innen bringen in den Theaterunterricht einen Realismusbegriff mit, der stark geprägt ist durch Film und Fernsehen. Das heißt, sie wollen auf der Bühne die Welt reproduzieren, wie sie sich in ihren Augen darstellt. Also gehören für sie das Sofa und der Couchtisch auf die Bühne, der Küchentisch und die Sitzecke. Dass solch illusionistische Bühnenbilder nicht funktionieren und dass sie das Spiel eher im Keim ersticken, weiß die Spielleitung. Aber die Spieler*innen wissen es nicht, wenn wir es ihnen nicht zeigen. Deshalb gehört an den Anfang einer Beschäftigung mit dem Thema „Bühnenbild“ unbedingt eine Übungseinheit, die vom Realismus wegführt hin zur zeichenhaften und abstrakten Bühnengestaltung.

In der folgenden Übung inszenieren die Schüler*innen in Dreiergruppen ein und denselben kleinen Dialog in unterschiedlichen Bühnenbildern.

Theorie

Wenn die Schüler*innen verstanden haben, dass es andere Möglichkeiten gibt als Stuhl, Tisch und Sofa zeigen wir ihnen Bühnenbilder aus dem Profi- und dem Schultheater, die unserer Auffassung von einem guten Bühnenbild entsprechen:

  • Es spiegelt die Idee des Stückes wider.
  • Es bietet Spielräume und Spielimpulse.
  • Es ist „arm" (Redaktion der Mittel).

Schaut man sich die Entwicklung des Bühnenbildes im professionellen Theater des letzten Jahrzehnts an, so zeichnet sich deutlich als eine Entwicklung die Reduktion der Mittel ab.

Profitheater Beispiel 1: Der gestaltete leere Raum - Olaf Altmann

Olaf Altmann, der geniale Bühnenbildner Michael Thalheimers, geht sogar so weit zu sagen: „Es ist schwer, eine bessere Bühne zu bauen, als die leere Bühne es ist.“ Er sieht es als seine Aufgabe, aus einer leeren Bühne eine bessere leere Bühne zu machen.

Der wohl größte Erfolg Michael Thalheimers war 2001 „Emilia Galotti“ am Deutschen Theater in Berlin, eine Inszenierung, die um die ganze Welt ging und überall Erfolge feierte. Ohne Frage auch ein Verdienst von Olaf Altman, der mit seinem Kunst-Raum die Inszenierung ganz wesentlich prägt: Ein nüchterner, Holz getäfelter Raum, ohne sichtbare Auswege und irgendwelche störenden Bühnen-elemente fluchtartig nach hinten auf eine schwarze Öffnung zentriert. Aus diesem schwarzen Schlund schreiten die Darsteller wie auf einem Laufsteg gerade nach vorne bis an den Bühnenrand, wo sie allein oder zu zweit ganz und gar pantomimisch die Exposition des Stückes spielen. Diese Choreographie einer künstlichen Mechanik der Auf- und Abtritte zieht sich durch das gesamte Stück und ist zusammen mit der vorwärts treibenden Musik von Bert Wrede Zeichen für die Ausweglosigkeit Emilias und der Figuren um sie herum. Der Mensch ist beherrscht von der Leidenschaft, die ihn in ihren Würgegriff nimmt. Wie immer bei Olaf Altmann gibt es einen Magic Moment im Bühnenbild, einen Moment, der einen umhaut, wo sich alles auf den Kopf stellt. In „Emilia Galotti“ ist es der Schluss, wenn sich die Seitenwände öffnen und schwarz gekleidete Tänzer und Tänzerinnen zur Walzermusik aus den Öffnungen hervorquellen und Emilia verschlucken.

Ausschnitt A: 1:21- 6:40; Ausschnitt B: 1:15:05 - 1:16:12

Kein anderes Stück als „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann kann besser zeigen, was Olaf Altmann meint, wenn er sagt, er wolle aus einer leeren Bühne eine bessere leere Bühne machen. Eigentlich ja fast zum Scheitern verurteilt: Ein naturalistisches Stück, das als Kern seiner Aussage die These vertritt, der Mensch sei Produkt des Milieus, in dem er lebt, spielt in einem leeren Raum. Die seiten-langen Bühnenbildbeschreibungen Hauptmanns sind hinfällig geworden. Altmann reduziert das alles auf die Idee des unterdrückten Menschen. Er baut eine Bühne, die die Spieler einquetscht zwischen zwei Holzblöcken von oben und von unten. Der Mensch kann nur mehr gebückt, nicht aufrecht durch das Leben schreiten. Und auch hier gibt es keinen Ausweg. Die Figuren können diesem Raum nicht entfliehen: Sie sind das ganze Stück über im Hintergrund anwesend. Dazu hört man das ganze Stück über ein metaphysisches Knirschen, das einem Angst macht, die Decke könnte herabstürzen und die Menschen zermalmen.

Ausschnitt: 1:26:08 - 1:28:50


Katrin Brack ist wahrscheinlich die radikalste unter den heutigen Bühnenbildnern. Sie will in ihren Bühnenbildern Räume schaffen, in und mit denen die Schauspieler*innen assoziativ umgehen können und die für die Zuschauer über die Dauer der Aufführung verschiedene Lesarten zulassen.

Profitheater Beispiel 2:


Der mit Materie gefüllte leere Raum - Katrin Brack
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Auch Johannes Schütz ist ein Meister der Reduktion. Seine Bühnenbilder sind Denkräume, aber keine illusionistischen Bebilderungen: „Gute Bühnen sind oft leer.“ (Schütz 2008, 6)

Profitheater Beispiel 3:


Der leere Raum als Denkraum - Johannes Schütz
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Auch im Schultheater hat sich in den letzten Jahren eine Ästhetik entwickelt, die sich vom illusionistischen Bühnenbild mit der ausrangierten Sofagarnitur weg hin zu einem gestalteten leeren Raum bewegt.

Schultheater Beispiel 1

Geheime Freunde - Theater-AG Gymnasium Kronwerk, Spielleitung: Tilmann Ziemke; Bühne: Siegfried Baltschun

„Geheime Freunde“ von Rudolf Herfurtner ist die Dramatisierung des Romans „Der gelbe Vogel“ von Myron Levoy. Die Handlung spielt während des zweiten Weltkrieges in New York und zeigt anhand eines aus Paris geflohenen jüdischen Mädchens namens Naomi die Folgen der NS-Herrschaft. Der zwölfjährige Alan soll Naomi helfen, ihr Trauma zu überwinden. Es geht um Themen wie „Freundschaft“ und „Vertrauen“, „Rassenhass“ und „persönliche Verantwortung“. Die Handlung spielt an vielen unterschiedlichen Orten drinnen und draußen, sodass ein realistisches Bühnenbild wegen der vielen Verwandlungen nicht in Frage kommt. So wird der Spielraum durch zwei einander gegenüberliegende schräg ansteigende Rampen gegliedert (Familie des Jungen auf der einen Seite, Naomi auf der anderen), die freiliegende Fläche dazwischen steht für die Straße, auf der die Jungen Schlagball spielen. Sie erweitert sich nach hinten hin durch eine ebenfalls schräg ansteigende Rampe zum Flugplatz, der eine wichtige symbolische Bedeutung hat. So ergibt sich ein allseits bespielbarer Raum in der Art eines Amphitheaters, der die handelnden Personen einschließt und Grenzen setzt und damit metaphorisch für das Scheitern der Figuren steht: trotz aller Anstrengungen und trotz der späten Hilfe durch seinen Freund Shaun kann Alan Naomi nicht retten – sie wird verrückt.

Die schrägen Spielflächen des Bühnenbildes bieten zudem zahlreiche Spiel- und Bewegungsimpulse für die Spieler.

Schultheater Beispiel 2:


Multifunktionale Objekte
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Schultheater Beispiel 3:


Gestaltete Szenenumbauten
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Schultheater Beispiel 4:


Requisit als Bühnenbild
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Wie entwickelt man Ideen?

Katrin Bracks Annäherung an eine Raumidee spielt sich zunächst nur im Kopf ab: „Alles, was ich sehe, erlebe, lese, denke oder von anderen erzählt bekomme, ist Inspiration für mich und bildet das Material, mit dem ich zu arbeiten beginne. Natürlich mache ich auch Zeichnungen, Skizzen und notiere mir konkrete Überlegungen. Am Anfang stehen aber immer viele Ideen und Möglichkeiten. Wenn ich dann zu überlegen beginne, ob ich einzelne Ideen auf der Bühne verwirklicht sehen will, reduziert sich das Ganze, bis schlussendlich die eigentliche Idee übrig bleibt.“ (Brack 2010, 166) Beim Koltès-Stück Der Kampf des Negers und der Hunde, das auf einer französischen Baustelle in Afrika spielt, notierte sich Katrin Brack alle Assoziationen, die ihr einfielen, auf einen Zettel: Ich dachte zuerst an ein Land, in das wir Weiße in den Urlaub fahren, eine gute Zeit haben, uns nehmen, was wir wollen, und den Müll zurücklassen. Dann habe ich lauter Begriffe, die mir zu Afrika einfielen, aufgeschrieben; z.B. flirrendes Licht, Hitze, schöne Menschen, wunderbare Landschaften, Musik, Krankheit, Armut, wilde Tiere, Mückenschwärme, Krieg, koloniale Ausbeutung, Slums. Daraus habe ich versucht, ein Bild zu entwickeln, das alle mir wichtigen Aspekte versammelt. So bin ich auf das permanent rieselnde Konfetti gekommen. Es vereint die Farben dieses Kontinents, spiegelt koloniale Arroganz und ein anderes, uns inzwischen fremdes Zeitgefühl wieder [sic!].“ (Ebd.)

Eine Odyssee - Theater-AG Gymnasium Kronwerk, Spielleitung: Tilmann Ziemke; Bühne: Stephan Lispius

Im Schultheater entsteht ein Bühnenbild häufig im Probenprozess. Am Beispiel der „Odyssee“ können wir das gut verdeutlichen. „Eine Odyssee“ von Ad de Bont erzählt von den Abenteuern des listenreichen Odysseus auf der zwanzig Jahre währenden Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg. Die Handlung spielt unter den Göttern auf dem Olymp und auf der Erde auf den zahlreichen Stationen von Odysseus’ Irrfahrt, bis er schließlich seine Heimat Ithaka erreicht.

Es war zunächst nur klar, dass die Götter eine eigene Sphäre erhalten sollten. Aber wie diese gestalten? Auf einer Probe, in der es um einen Status-Dialog zwischen Zeus und Hermes ging, schlug der Spielleiter vor, den Dialog mit einem Tischtennisspiel zu verknüpfen. Das machte großen Spaß, und schnell wurde deutlich, dass der Dialog dadurch gewann. Ebenso schnell war aber auch klar, dass das keine Inszenierungslösung war, denn das Spiel mit dem kleinen Zelluloidball war nicht planbar. Man suchte nach anderen Wettkampfmöglichkeiten und kam so schließlich auf den Ort: Er sollte ein Fitnessstudio auf dem Olymp sein. Damit war gleichzeitig auch ein Inszenierungskonzept gefunden: Der Mensch als Spielball der Götter, die wie kleine Kinder auf dem Spielplatz ihre Kräfte messen.

Wie man in einem Bühnenbild spielen kann und wie es auf den Zuschauer wirkt, ist ganz wesentlich vom Material und von den Farben abhängig, genau so wie auch auch von der Gliederung des Raumes und den geometrischen Formen.

Material, Farbe, Form, Gliederung des Raumes


Wichtige Kriterien bei der Entwicklung eines Bühnenbildes
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Praktische Arbeit am Modell

Der Schwerpunkt der Einheit sollte auf der praktischen Arbeit liegen. Die Spielleitung muss den Schüler*innen dazu Materialen zur Verfügung stellen, mit Hilfe dessen eine kreative Bühnenbildentwicklung möglich ist. Optimal ist es, wenn die Arbeit zu einem konkreten Projekt erfolgen kann. Die Materialien sollen so beschaffen sein, dass die Schüler*innen durch sie inspiriert werden und damit experimentieren können.

Damit das nicht im luftleeren Raum geschieht, bekommen die Schüler*innen ein Bühnenmodell an die Hand, das aus vier Modulen schnell zusammensteckbar ist. Im Idealfall entspricht das Bühnenmodell der Schulbühne, auf der das Projekt aufgeführt werden soll. Das ist aber nicht unabdingbare Voraussetzung, denn es geht hier in erster Linie um das Finden und Entwickeln von Ideen.

Wie man relativ einfach, schnell und kostengünstig solche Bühnenmodelle anfertigt, siehe hier:

Bühnenmodelle


Schnelle und einfache Anfertigung von zehn Modellen für einen DS-Kurs
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Als Material für die Entwicklung von Bühnenbildern könnte man den Schüler*innen zur Verfügung stellen:

  • Sand, kleingeschnittenes Laub, Holzmehl/Holzspäne, grobes Kaffeemehl (=Torf)
  • verschiedene Plastikfolien
  • verschiedene Textilien (verschiedene Farben und Strukturen)
  • verschiedenfarbiges Filz
  • Metalle (Gitterstrukturen, Alluminiumplatten)
  • Bühnenelemente aus Styropor oder Holz
  • verschiedenfarbiges Papier
  • Pappe
  • Mini-Luftballons
  • Styroporkugeln und -zylinder
  • verschiedene Woll- und Bindfäden

Am besten arbeiten die Schüler*innen in Zweier- oder in Dreierteams. Die Arbeit könnte in drei Phasen (drei Doppelstunden) ablaufen:

  • Phase 1: Freie Arbeit: Ausprobieren verschiedener Materialien ohne Stückbezug;
  • Phase 2: Arbeit zu einem bestimmten Stück mit freier Wahl der Materialien
  • Phase 3: Arbeit zu einem bestimmten Stück mit vorgegebenen Materialien

Die Schüler*innen sollten die Zwischen- und Endergebnisse ihrer Arbeit mit dem Handy fotografieren.

Hier Fotos von den Workshopergebnissen.

Foto: Ellen Thuge

Schlussbemerkung

Dieser Workshop / diese Unterrichtseinheit beschäftigt sich ausschließlich mit der Guckkastenbühne, deckt also nur einen Teil des Lernfeldes „Raum“ ab.

Die Schüler*innen sollen in der Lage sein, ihre Entwürfe zu beschreiben und ihre Entscheidungen zu begründen.




Der Workshop basiert wesentlich auf den Kapiteln 2.1, 2.2 und 2.3 aus meinem im Deutschen Theaterverlag erschienenen Buch „Bühne und Beleuchtung“ (s. Literaturverzeichnis).

Literaturangaben

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