Berlin

Michael Aust und Michael Schwinning

Der Bau

Eigenproduktion frei nach Franz Kafka

Rosa-Luxemburg-Gymnasium , Grundkurs Darstellendes Spiel

Spielleitung: Sabine Kündiger

Steintor Varieté, 60 Min.

Was ist eine normale Gefahr? Gibt es auch unnormale?

Franz Kafkas unvollendete Erzählung „Der Bau" wurde 1928 posthum veröffentlicht, trat aber erst 2014 ins Licht einer größeren Öffentlichkeit in der Verfilmung von Jochen Alexander Freydank mit Axel Prahl, Devid Striesow u.a. . Der Film bietet eine moderne Adaption des Stoffes mit realistisch erzählerischen Mitteln in einem städtischen Setting.

Die Berliner Gruppe hält sich dicht an das Narrativ der Vorlage. Der Ich-Erzähler ist ein nicht näher bezeichnetes dachsähnliches Tier, das sich einen unterirdischen, labyrinthartigen Bau als Schutz gegen Feinde geschaffen hat und diesen unaufhörlich optimiert, ohne sich jemals hinreichend sicher zu fühlen. Eine tatsächliche Bedrohung von außen findet dabei nicht statt, der Fortgang der Erzählung wird allein getragen vom ununterbrochenen Gedankenstrom des Erzählers, der zwischen euphorischem Aktionismus und depressiver Verzweiflung bei zunehmender Paranoia wechselt.

Die Herausforderung der 60-minütigen Inszenierung liegt in der Umsetzung dieses Gedankenstroms mittels Sprechtext und körperlichem Spiel durch das dreizehnköpfige Ensemble. Das gelingt durch Einsatz verschiedenster sprachlicher Gestaltungsmittel und einem äußert präzis stilisierten Körpereinsatz in permanent geduckter Haltung mit Trippelschritten, die das tierische Element der Erzählung tragen und als eine kollektive Haltung vermitteln.

Von besonderem Interesse hier ist die Realisation des „Baus" als Bühnenraum.

Die Bühne des Varietés wird als Guckkastenbühne genutzt, realisiert wird dabei aber ein ganz eigener Raum, der den Eindruck eines geschlossen Labyrinths beim Zuschauer erweckt. Dominante Elemente sind etwa 2,5 Meter hohe und 1,50 breite senkrecht stehende Gittergestelle, in die eine Unzahl zerknüllter Zeitungen drapiert sind. Diese Gestelle schließen optisch den Raum nach hinten und zu beiden Seiten ab, sind allerdings verschiebbar und erlauben es den Spieler*innen, sich durch Zwischenräume hinein und hinaus zu zwängen, wobei der Zuschauer hinter dem Bühnenbild weitere Gänge dieser Art imaginiert. Auch nach vorne, also an der Rampe, ist eine kleinere, geschlossene Mauer in Richtung Publikum von vielleicht 30 cm Höhe aus diesem Material errichtet, was den Bau optisch nach vorne abschließt, ergo die 4. Wand materiell definiert und so betont, dass der Zuschauer hier ein Außenstehender, ein Unbeteiligter ist. In die andere Richtung gedacht entsteht durch die Bauhöhe dieser Spielfeldbegrenzung auf der Bühne ein vom Publikum aus uneinsehbarer Raum auf dem Bühnenboden im Sinne eines Versteckes, der immer wieder für überraschende „Auftritte" von Spieler*innen sorgt, die einfach dort eine gewisse Zeit gelegen haben und sich jetzt nur aufsetzen müssen, um wieder aktiv im Spiel zu sein.

In Kombination mit den Auftritten durch die Wände erhält der Bau und damit auch das Spiel etwas Mystisches. Lange Zeit zum Beispiel bleibt unklar, wie viele Spieler*innen überhaupt agieren, zu identisch sind Kostüm, Bewegung, Schminkmaske, Kopfbedeckung und Sprachhabitus, zu unauffällig Auftritte und Abgänge. Das schmutzig-weiße Kostüm des Ensembles sorgt für einen weiteren sinnreichen Effekt: Die Spieler*innen verblenden zuweilen absichtlich mit dem Hintergrund, sie können sich geradezu in die hinteren Wände des Baus bis zur Unsichtbarkeit hinein arbeiten und verschmelzen mit dem Raum. An mehreren Stellen der Inszenierung unterstützt bewusst kaltes Bühnenlicht diese Transformationen.

Kafkas sprachliche Darstellung der Symbiose von Bau und Bewohner findet hier eine eindrucksvolle optische Entsprechung. Letztlich wird diese Raumwahrnehmung durch die Art transportiert, wie die Zeitungen drapiert sind. Zerknüllt und in die Gitter gepresst bilden sie an keiner Stelle eine plane Fläche und erzeugen je nach Winkel des Bühnenlichts eigene kleine Schatten in diesem porös wirkenden Bau. In kurzen Handlungssequenzen werden die Zeitungen auch immer wieder als solche bespielt, wenn sie aus den Wänden gezogen und „gelesen" werden, als seien sie in einer Art Chaos-Bibliothek angehäufter angsteinflößender Nachrichten aus der Welt draußen und enthielten die Gründe für den Rückzug in den Bau. Eine solche Bedeutung impliziert das Spiel zwar, explizit dramatisch genutzt aber wird das Papier als Baumaterial. Es wird in großen Mengen von den Darstellern transportiert, geworfen und zerrissen, wobei akustisch gesehen das Rascheln den Sinneseindruck eines engen Labyrinths unterstützt. Die eher verhaltenen Geräusche ihrer Tätigkeit und Bewegung dienen auch dazu, die Bewohner des Baus selbst zu ängstigen und zu beunruhigen.

Die Berliner Inszenierung schafft es in diesem inszenierten Raum eindrücklich, eine hermetisch wirkende Spielfläche zu etablieren, die die Enge und Verzweigung eines unterirdischen (Tier)Baus spürbar macht und gleichzeitig das Bühnenbild als Spiegel innerer Zustände kennzeichnet.

Die Bühne des Varietés war allerdings für diese Inszenierung im Prinzip weniger geeignet. Die Seitensicht aus dem Publikum schafft durch den gewählten Bühnenbau tote Winkel, die Sicht aus den Rängen wirkt dem Eindruck des geschlossenen Raums entgegen und ruiniert den Aspekt eines „Versteckes", der „Bau" wirkt so wie von oben aufgegraben, bzw. offen liegend. Akustisch konnten sich die versierten Spieler*innen im großen Saal durchsetzen, wenn auch mit spürbarer Anstrengung.


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