Schleswig-Holstein
Eigenproduktion in Kooperation mit dem Theater Lübeck
Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen Lübeck
Theater-AG FÄUSTlinge und Spielclub 4
Spielleitung: Simone Boles, Knut Winkmann
Steintor Varieté, 60 Min.
AnderLand ist der Traum junger Menschen von einer Realität, in der die Begrenzungen und Prägungen der profanen Welt, die uns umgibt, keine Rolle spielen. In AnderLand ist es einfach, negative Gefühle zu überwinden oder in Krisen gelassen zu bleiben. AnderLand kümmert sich um das moralisches Konto und gleicht es aus, was immer du auch tust. So formuliert es eine Spielerin im Stück. Nach AnderLand gelangt man durch einen mutigen Sprung ins Ungewisse. Im Falle der Gruppe ist es ein Sprung von der Bühne, vom Licht ins Dunkel. Damit endet das Stück, für das der Spielort am Steintor zu einem völlig anderen Spielraum umgebaut wurde.
Die eigentliche Bühne wird nicht bespielt, sie bleibt im Dunkel. Im vorderen Bereich ist eine große Leinwand positioniert, die wie ein Prospekt für Filmeinblendungen, Live-Cam und Lichteffekte genutzt wird. Die tatsächliche Spielfläche befindet sich im vorderen Bereich des Parketts auf einer weiß ausgelegten quadratischen Fläche von geschätzten 8x8m. Dafür wurde die Bestuhlung weitgehend geräumt, im hinteren Parkettbereich und an den Seiten bleiben einige Reihen erhalten. Diese Bestuhlung bietet allerdings aus zwei Gründen keine wirklich optimale Sicht. Die Spielfläche ist in diesem Aufbau nicht erhöht, damit ist die Bühnensicht schon ab der dritten Reihe eingeschränkt, zumal zahlreiche Bühnenaktionen auf dem Boden stattfinden. Der Hauptgrund ist allerdings, dass die gesamte Inszenierung von oben, in einer Art „Draufsicht", konzipiert ist. Daher sitzt der größte Teil des Publikums auch in den beiden Rängen und blickt auf das Geschehen hinab. Ein zentrales Merkmal der Inszenierung ist, dass eine nicht geringe Zahl von Projektionen von oben herab auf die Spielfläche erfolgt, so dass die weiße Fläche auch als Leinwand fungiert, vor die die weiß gekleideten Spieler*innen einbezogen werden als eine Art lebendes Relief. Die so entstehenden Bilder und Tableaus sind aus dem Parkett eher ahnbar als sichtbar.
Der erhebliche Aufwand der Einrichtung für AnderLand ist die Folge des inhaltlichen Konzeptes, in dem es um die Verbindung analoger mit digitalen Räumen geht, präziser gesagt, um den Einfluss digitaler Angebote auf das Lebensgefühl Jugendlicher, hier vertreten durch das zehnköpfige Ensemble. Das Publikum erfährt etwa, wie die Struktur eines normalen Schultages von Apps diktiert wird. Ohne einen Blick auf die Wetter-App ist man vielleicht falsch angezogen, die Kalender-App hilft bei der Navigation durch die Vielzahl der Verpflichtungen. Netflix und YouTube füllen die Freizeit, die Instagram-Story braucht Pflege und auch die letzte pn abends gegen 23 Uhr muss zumindest noch kurz beantwortet werden. Hausaufgaben kann man immer noch morgens im Bus erledigen. Dumm nur, dass Eltern und überhaupt alle Erwachsenen so konkrete Erwartungen haben, wobei „Lernen" als nicht näher spezifizierte Tätigkeit exponiert steht. Die Gruppe zeigt diese Herausforderung in ironischer Darstellung als Fitness-Übung begeisterter „Lerner", die tatsächlich körperlich sehr anstrengend anmutet. Ironisch auch, weil die höchste Leistungsbereitschaft definiert ist als „Mitgliedschaft im Frühaufsteher-Mathe-Club, immer sonntags um 7.30 h".
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Überhaupt sehen wir eine anstrengende Aufführung für Spieler*innen wie auch für die Zuschauer. Die Gruppe ist fast ständig in Bewegung, springt, läuft, tobt und tanzt, um ab und zu kurz in Freeze-Tableaus zu verharren und dann wieder loszulegen mit großer Bewegungsfreude, aber auch strenger Gruppendisziplin. Die nicht geringe Textmenge des Abends wird auf abwechslungsreiche Art inszeniert. Es gibt chorische Passagen, oft in Call- und-Response-Vortrag, die umfangreichsten Textmengen sind allerdings monologisch und werden über Mikro realisiert. Die jeweiligen Sprecher*innen schreien dabei meist ihre Texte, zumal sie sich auch fast immer gegen unterlegte Soundtracks mit Musik oder Soundscapes durchsetzen müssen, während auf der Bühne durchaus noch agiert wird und sogar eine Live-Cam Bühnengeschehen auf die hintere Leinwand projiziert. Anstrengend sind auch die abrupten Szenenwechsel, die gerne lichttechnisch von „black" auf „full on" gehen, verbunden mit akustischen Signalen.
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Diese mediale Vollbedienung hat natürlich ihren Sinn, sie spiegelt die Reizüberflutung, der zeitgenössische Menschen ausgesetzt sind, wenn sie sich so bewegen wie die junge Generation. Ein schönes Beispiel zum Thema Reizflut liefert eine Szene, in der eine Spielerin erstmalig die Idee des „AnderLand" - wie oben angemerkt - in einem Monolog erklärt, die Gruppe eine Handychoreographie beisteuert, dazu eine Karaoke-Fassung des Hits „Atemlos" gespielt und der Songtext auf der Leinwand eingeblendet wird, eine „4-Komponenten-Szene" sozusagen. Interessant war dabei in Halle, dass Teile des Publikums nicht widerstehen konnten, den sattsam bekannten Schlager laut mitzusingen, was zumindest die Sprecherin des Monologes kurzfristig irritierte, weil es wohl so nicht intendiert war.
Die Gruppe spielt durchweg mit vollem Einsatz, sie ist mental und vor allem auch körperlich gefordert. Das Ensemble ist in den Ablauf des Stücks eingebaut wie in eine digitale Präsentation zum Thema digitale Überforderung. Daher ist es erfreulich, wenn innerhalb der gegebenen Form an einer Stelle der Gruppe die Möglichkeit gegeben wird zu verbalisieren, was sie „wirklich wollen": Zum Beispiel „nicht immer wissen zu wollen, was Tante Helga in die Familiengruppe schreibt". Und auch nicht per whatsapp von Eltern immer um Standortmeldungen und Ankuntstzeiten zuhause ersucht zu werden. Hier offenbart sich eine kleine Relativierung der größtenteils selbstkritischen Haltung der Gruppe. Kann es sein, dass die Allmacht der digitalen Welt eigentlich nur dann negativ als Überwachungsinstrument gesehen wird, wenn sie von Erwachsenen benutzt wird? Auf jeden Fall ist die chorische Hauptbotschaft: „Wir wollen unsere Ruhe".
In Bezug auf das Thema Raum.Bühne bietet das Stück aus Lübeck einen interessanten Beitrag. Die Spielfläche aus weißer Folie, die gleichzeitig ja Projektionsfläche ist, kombiniert zwei sehr unterschiedliche Räume. Als weiße Fläche ist sie definitiv plan, die weiß gekleideten Spieler*innen auf ihr wirken wie Insassen eines geschlossenen Raumes. Dieser Raum erinnert ein wenig an einen Hörsaal der Pathologie, in dem vor unseren Augen Pubertät seziert werden soll.
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Durch andere Lichtsetzung lassen sich auf der gleichen Fläche aber schnell andere Räume definieren, die seltsamerweise nicht mehr so geschlossen wirken. Wenn das etwas gedimmte Licht eine mittige Bühnenzone definiert, verwandelt sich der Raum schnell in ein Art Lagerfeuer-Ambiente. Auch farbiges Licht dient wirksam als Raumgestalter. Entscheidend ist das Weiß der Gestaltungsfläche. Durch Projektionen von oben wird die Fläche zu einem vollständig anderen Raum, der in die Tiefe geht, ein Abgrund, über dem die Spieler*innen zu schweben scheinen oder in den sie hineinzufallen drohen. Manchmal verschmelzen sie auch mit dem projizierten Bild, abhängig vom benutzten Bildmaterial, das wohl absichtlich häufig schwer zu identifizierende Räume mit geradezu psychedelischer Tiefenwirkung nutzt; Stammen die Bilder aus Videospiellandschaften oder vom Meeresboden? Besonders spannend sind Momente, in denen sich beide Räume überlagern. Das geschieht dann, wenn in den Projektionen weiße Flächen vorproduziert sind, also ein Teil der Bühnenfläche Tiefe aufweist und Sektoren genau daneben einfach die weiße Fläche zeigen. Die Wirkung hier ist die einer sich langsam auflösenden Phantasielandschaft.
Und noch ein diesbezüglicher Aspekt ist interessant. Wie eingangs erwähnt, ist die Inszenierung „von oben" gedacht. Das Publikum im Parkett dürfte aber eine alternative Rezeption erleben, die nicht an sich defizitär ist. Die Zuschauer sitzen dicht am Geschehen, an den Spieler*innen und dürften deren Präsens, insbesondere ihre Mimik, deutlich intensiver erleben. Auch die Bühnenfläche wird so anders, größer, im hinteren Bereich entfernter als von oben wirken. Grundsätzlich gilt das natürlich für Theaterrezeption allgemein, je weiter vorne, desto unmittelbarer. Hier ist die Szenographie allerdings eine vertikal angelegte.
Abschließend eine Anmerkung zum inhaltlichen „Wir wollen unsere Ruhe".
In Anlehnung an eine Episode der Netflix-Serie „Black Mirror" phantasieren die Spieler*innen, dass ihr Leben sich häufig bereits so anfühle, als sei ein Chip im Kopf platziert, der ständig Bilder und Daten des Lebens an den häuslichen PC übertrage. Die Folge: Eltern können Schulwege überwachen, nehmen teil an Shopping-Exzessen, können sehen, ob die Übernachtung wirklich nur bei der Freundin ist, bzw. wer der Junge da ist, mit dem die Tochter auf dem Bett liegt. Ein so behütetes Leben erlaubt doch wohl nur einen Ausweg: Flucht ins AnderLand.
Während die Spieler*innen also sprungbereit an den Seiten der Spielfläche stehen und eine von ihnen den Fluchtplan kundtut, mag man sich kurz erinnern, dass vorher im Stück dieses AnderLand nicht unbedingt nur positiv konnotiert war. Da hieß es, dass AnderLand „tröste und sei immer gut drauf". Anderland „verstehe Spaß, solange es ihn verkaufen könne. Es glaube an dich, wenn du an es glaubst". Wohin genau führt also dieser Rettungssprung aus der Überforderung?
Wenn die Spieler*innen springen, der Black das Dunkel simuliert, bleibt diese Ambivalenz kurz im Raum stehen, bis der donnernde Applaus einsetzt.